«Wie, haben Sie gedacht, würde Ihre Mutter einmal sterben?», fragte mich die Pflegerin im Palliativzentrum, während sie meine bewusstlose Mutter vorsichtig umlagerte. Meine Mutter lag nach einem brutalen Treppensturz seit fast drei Wochen im Koma und reagierte auf keine äusseren Reize mehr, weder auf unsere Stimmen noch auf unsere Berührungen. Sie atmete nur noch schwach. «Jeder stirbt auf seine eigene Weise», fügte die Pflegerin an und befeuchtete die ausgetrockneten Lippen meiner Mutter zärtlich mit Sanddornöl.
Ich habe bereits beide Eltern beim Sterben begleitet. Ich bin ihr einziges Kind. Und es stimmt, beide sind auf ganz andere Weise gestorben.
Als mein Vater vor zehn Jahren schwer krank wurde, hat er monatelang gekämpft, gelitten, sich Operationen und Therapien ausgesetzt. Obwohl die Ärzte sagten, er würde bald ins Koma fallen, blieb er bis zum Schluss bei Bewusstsein. Meine Mutter hingegen fiel eine Treppe hinunter und war sofort bewusstlos. Minuten vorher hatten wir noch lachend ein Selfie zusammen gemacht. Bei meinem Vater wusste ich einige Monate lang, dass sein Tod unausweichlich bevorsteht. Bei meiner Mutter war buchstäblich mit einem Schritt alles anders, ihr Leben ging plötzlich zu Ende.
Es war auf beide Weisen schwer, meine Eltern sterben zu sehen.
Nach antiker Vorstellung liegt die Lebenskraft im Atem selbst, dem Pneuma, das auch das Blut durch die Adern treibt. Im Moment des Todes verlässt das Pneuma den Körper. Der Atem wird ausgehaucht. Daran musste ich denken, als meine Mutter an einem frühen Herbstmorgen ihre letzten Atemzüge tat. Mein Mann und ich sassen auf ihrem Bett, hielten sie fest, und irgendwann atmete sie zum letzten Mal ein und dann ihr Leben für immer aus.
Von der Idee, dass das Pneuma beim Sterben den Körper verlässt, stammt wohl auch der Brauch, das Fenster zu öffnen, kurz nachdem jemand gestorben ist. Damit der Atem entfliehen kann. Oder ist es die Seele, die raus in den Äther soll?
Die Palliativpflegerin sagte jedenfalls, als sie das Fenster des Zimmers meiner soeben verstorbenen Mutter öffnete: «Geben wir der Seele doch noch einen Moment Zeit, zu flüchten.»
Beim Tod meines Vaters war ich von vielen Dingen überrascht oder gar überrumpelt. Jetzt, beim Tod meiner Mutter, hatte ich schon etwas Übung. So blöd das auch klingt: Einen Tod begleiten ist auch ein Lernprozess.
Ich weiss nun, dass die Rituale der Gesellschaft uns vorgeben, wie man sich nach einem Tod zu verhalten hat. Angehörige informieren. Formulare ausfüllen. Todesanzeige schalten. Trauer tragen. Diese Verpflichtungen geben der Zeit direkt nach dem Tod eines geliebten Menschen auch eine gewisse Struktur. Dadurch, dass man gezwungen ist, sich mit Administration zu beschäftigen, steht man am Morgen auf und kommt irgendwie durch die ersten Tage, die wie in Trance vergehen. Dabei bekommt der Tod auf einmal eine sehr weltliche Komponente, wenn es um Details der Organisation geht, um Leichenüberführungen, Sargauswahl, Grabbepflanzung und die Rechnungen von alledem.
Ich weiss jetzt, wie unbeholfen manche Menschen zu kondolieren versuchen oder sich in der eigenen Bestürzung über die Todesnachricht so sehr gehen lassen, ungehemmt weinen, dass man sich plötzlich selbst in der Trösterinnenrolle wiederfindet. So wie man an der Beerdigung seinen Nächsten auch hauptsächlich Gastgeberin ist, die Starke, die die Fassung zu bewahren versucht.
Ich weiss, dass es auf dem Trauerkarten-Markt nur eine begrenzte Auswahl an Motiven gibt. Kreuze. Stege. Trauerweiden. Horizonte. Bäume auf einem Hügel in der Abendsonne, und dass es egal ist, was man schreibt, sogar Phrasen sind okay, solange sie nicht versuchen, dem Tod etwas Positives abzugewinnen.
Ich weiss, wie körperlich die Trauer ist. Sie kann allerlei Mängel verursachen, sie ist eine übermässige Macht, die sogar auf den Stoffwechsel zugreift. Obwohl ich keinen Appetit hatte, fühlte ich mich ständig unterzuckert, auch wenn ich gerade gegessen hatte. Doch niemand stellt Essen vor die Tür, so wie es in amerikanischen Serien zu sehen ist. Hier in der Schweiz muss auch in tiefer Trauer Pizza bestellt werden.
Ich weiss, wie chaotisch die Trauer ist. An manchen Tagen dominiert das Gefühl, nie wieder aufstehen zu können. Oder man verliert sich in Erinnerungen an die Vergangenheit. Dann wiederum hat man plötzlich unbändige Energie und Lust, das ganze Leben neu zu organisieren. Auf einmal ist man wieder der Zukunft zugewandt.
Ich weiss, auf welche Weise auch immer ein geliebter Mensch stirbt, der Schmerz ist nicht vorhersehbar, und nur Menschen, die bereits einen solchen Verlust erlebt haben, ahnen, wie weh es tut. So weh, dass man manchmal nur noch lachen kann über die Absurdität der Situation, weil einem die Kraft für Tränen bereits ausgegangen ist. In solchen Momenten hilft es, wenn man Freund*innen hat, die mitlachen.