Transrealitäten im Theater
Zwei queere Theaterschaffende, Aktivist*innen und Expert*innen nähern sich einer Einordnung ihrer Sozialisierung in Ostdeutschland und der Entwicklung von Geschlechtervielfalt im Theater an. Ein Mailwechsel.
Rosana Cade und Ivor MacAskill haben 2018 begonnen, «The Making of Pinocchio» als Reaktion auf Ivor MacAskills Gendertransition zu entwickeln. Copyright: Tiu Makkonen
Juli 2024
Hannes: Hallo Nele, es freut mich, dich kennenzulernen. Ich habe dich gegoogelt und dabei herausgefunden, dass du 1987 in Berlin geboren bist, in der Zürcher Freien Szene Theater machst, Theaterwissenschaftler*in bist und «they», «dey» oder keine Pronomen benutzt. Bist du in Ost- oder Westberlin aufgewachsen?
Ich bin zwar nur zehn Jahre älter als du, aber unsere aktive Theaterzeit überschneidet sich vermutlich nur ein wenig. Ich war ab 1997 mit Hospitanzen und Assistenzen an verschiedenen Orten, erst neben dem Studium, in Leipzig und Tübingen, später am Deutschen Theater Berlin, bei den Salzburger Festspielen und anschliessend fest an den Schauspielhäusern Bochum und Zürich. Ab 2006 inszenierte ich selbst, 2007 im Sommer wagte ich das Coming-out als trans Mann. Meine letzte Inszenierung als freier Regisseur (so far) war 2017 am Landestheater Bregenz.
Nele: Lieber Hannes, ich freue mich auch sehr, dich kennenzulernen. Ich habe dich natürlich auch gegoogelt und bin sofort auf deine Website gestossen. Ich bin neugierig, wie dich das Leben von der Psychologie zur Regie und weiter zum hauptberuflichen Einsatz für LGBTQIA-Themen geführt hat. Ich habe gesehen, dass du auch mit dem Regenbogenhaus in Zürich verbunden bist.
Meine Beschäftigung mit dem Theater überschneidet sich zeitlich kaum mit deiner. Ich habe zwar Theaterwissenschaft studiert, mich aber erst etwas später in die Praxis gewagt. Seit 2015 arbeite ich in der Schweizer Freien Szene in unterschiedlichen Rollen, wie das in Kollektiven schnell passieren kann. Meine Hauptexpertise ist wahrscheinlich Dramaturgie, aber ich habe auch schon selbst performt und meine eigenen Texte geschrieben.
Hannes: Mein Vorschlag für unseren Austausch ist, dass wir uns gegenseitig fragen und davon erzählen, was wir wissen, erleben oder erlebt haben zum grossen Thema Geschlechtervielfalt – mit Fokus auf Trans/Nichtbinarität – und Theater.
Nele: Als Theaterwissenschaftler*in fällt mir beim Thema Trans und Theater sofort auf, wie schwierig eine historische Aufarbeitung ist. Zum einen gibt es dazu kaum Forschung, zum Zweiten sind unsere Begriffe recht neu und nur schwer auf historische Personen zu übertragen und zum Dritten wurden genderqueere Lebensrealitäten und Performance-Traditionen besonders durch den europäischen Kolonialismus verschwiegen und verdrängt. Wir könnten natürlich über «Hosenrollen», «Travestie», «Onnagata» oder elisabethanische Aufführungspraxen schreiben. Erst letztes Jahr haben Jenny Schrödl und Eike Wittrock einen Sammelband zu «Theater* in queerem Alltag und Aktivismus der 1970er und 1980er Jahre» veröffentlicht. Das ist auch ein theaterhistorischer Meilenstein. Mit dir zusammen die letzten Jahrzehnte im deutschsprachigen Theater anzuschauen, finde ich aber auch gerade interessanter. Was denkst du dazu?
Hannes: Ich denke, die letzten zwei Jahrzehnte sind die spannendsten, wenn es um Trans-Repräsentation am Theater geht. Für mich war Theater Anfang der Nuller ein heteronormativer Ort. Es war die Zeit der «lustigen» Homophobie im Stil von «Traumschiff Surprise» und queere Figuren waren Nebenfiguren oder starben an Aids. Das änderte sich zumindest im Stadttheater erst Ende der 2010er.
«Der Kollaps eines Systems eröffnet Denk- und Möglichkeitsräume.»
Nele: Ja, in der Schweiz fallen mir mittlerweile viele Theaterschaffende ein, die trans und/oder nichtbinär sind. Die meisten von ihnen arbeiten in der Freien Szene, aber mit Kim de l’Horizon und «Moved by the Motion» (Performance-Gruppe rund um die Künstlerin Wu Tsang) sehen wir jetzt auch im Stadttheater langsam trans Künstler*innen in künstlerisch leitenden Rollen.
Hannes: Seit 2010 habe ich nicht mehr viele Stücke und Performances gesehen, in den letzten Jahren wirkte es aber, als seien queere Blicke auf den Bühnen häufiger geworden.
Ich kann also mehr aus der Zeit davor erzählen, wenn es um Geschlecht und Queerness im Theater geht und punktuell meine Perspektive von heutigen Auseinandersetzungen, dann aber aus Sicht des Trans-Experten. Wie sieht das bei dir aus? Wie viel hat deine berufliche Beschäftigung mit Theater mit deiner Geschlechtsidentität zu tun und wie erlebst du das?
Nele: Ich verstehe mich schon lange als queer, seit 2021 beschreibe ich mich öffentlich als nichtbinär. Über meine Auseinandersetzung mit meiner Geschlechtsidentität zu sprechen, ist mir vor dem Coming-out auf der Bühne schon leichter gefallen als andernorts. Vielleicht, weil sie ein Testfeld sein kann, weil dort Gesagtes nicht ganz so festgeschrieben ist. In Theaterproduktionen, an denen ich seitdem mitgewirkt habe, ist – nicht nur meine – Geschlechtsidentität immer auch ein Thema. Nicht unbedingt als die zentrale Auseinandersetzung, häufiger als eine Grundlage der Zusammenarbeit, als Ethos und als Blickwinkel. Wenn Künstler*innen die Kontrolle über ihre Selbstrepräsentation haben, dann können sie sich Tokenisierung beziehungsweise dem fetischisierenden normativen Blick ein Stück weit entziehen.
Aber eben nur ein Stück weit: Die starke Konkurrenz um Fördermittel führt immer noch dazu, dass viele Künstler*innen ihr «Anderssein» ausstellen und verkaufen müssen. Je mehr ein Thema im Trend liegt, um so stärker greift dieser Effekt und die politische Instrumentalisierung von LGBTQIA-Themen durch rechte Parteien zwingt uns als trans Personen und Kunstschaffende zu Stellungnahmen, Richtigstellungen und auch zur Befriedigung der Neugier des cis Publikums. Selbstdarstellung und Selbsterfindung beschäftigen mich auch in meiner theaterwissenschaftlichen Forschung und ich untersuche dort mehrere Produktionen von und mit trans Personen.
Ich würde aber gerne noch einmal einen Schritt zurück machen. Mir ist aufgefallen, dass du auf deiner Website deine Herkunft aus der DDR ganz selbstverständlich voranstellst. Du hast mich gefragt, ob ich in Ost- oder Westberlin geboren wurde und tatsächlich war es Ostberlin. Als in das Ende der DDR hineingeborene – aber durch meine Familie auch klar ostdeutsch geprägte – Person kläre ich für mich immer wieder neu, wo ich meine Herkunft benenne und wo ich sie verschweige: Sei es, weil ich mich als ImpOSTor fühle, sei es, weil ich meinem Gegenüber nicht vertraue, auf die Information sinnvoll zu reagieren. Insofern ähnelt das dem immer wieder neu zu leistenden Coming-out, wie ich es als nichtbinäre Person erlebe.
Hannes: Mir hat das Aufwachsen in einem System, das pünktlich mit dem Einsetzen meiner Pubertät kollabierte, gezeigt, dass Systeme veränderbar sind. Dass Selbstverständlichkeiten eben nur scheinen, als seien sie selbstverständlich. Die Frage zu stellen, ob in Bezug auf Geschlecht Biologie = Schicksal ist, rüttelt ja an den Grundfesten einer patriarchal organisierten Gesellschaft. Wo kommen wir denn hin, wenn Menschen einfach behaupten können, sie wären keine Frau, und sich nehmen, was den Männern gehört? Und wo kommen wir erst hin, wenn Menschen ihr Geschlecht ausserhalb der Binarität verorten?
Nele: Der Kollaps eines Systems eröffnet Denk- und Möglichkeitsräume. Ich glaube, dass die Zäsur der Covid-19-Pandemie einen vergleichbaren Effekt auf viele Menschen hatte: Von einem Tag auf den anderen waren Selbstverständlichkeiten fundamental infrage gestellt. Zusätzlich hat die Isolation viele Menschen zur Introspektion ermutigt und genötigt. Ich selbst hatte schon einige Jahre über mein Verhältnis zu Gender reflektiert und mein inneres Coming-out als genderqueer/nichtbinär fand schon vor der Pandemie statt – mit einzelnen Freund*innen hatte ich auch schon darüber gesprochen.
Das öffentliche Coming-out kam dann aber erst nach einigen Monaten, die ich arbeitslos und in Soloisolation verbracht habe. Ich meine, dass es seit 2020 einen deutlichen Anstieg von Menschen gibt, die sich als trans/nichtbinär outen. Genaue Zahlen kenne ich nicht. Oft werden ja grössere Sichtbarkeit und Akzeptanz als Gründe für diesen Anstieg vorgeschlagen. Die Eröffnung neuer Möglichkeitsräume durch die fundamentale Verunsicherung des Status quo während der Pandemie scheint mir ein weiterer Faktor zu sein, vergleichbar mit deiner Erfahrung mit dem Ende der DDR.
Hannes: Das kann ich aus meiner Beratungsarbeit bestätigen. Während Corona gab es einen deutlichen Anstieg an Beratungsanfragen und viele Menschen gaben die Pandemie als ausschlaggebend dafür an, sich jetzt dem Thema Identität zu stellen. Ob es Studien dazu gibt, weiss ich nicht. In der DDR aufzuwachsen und anschliessend in Süd- und Westdeutschland und in der Schweiz zu leben, hat mir aber auch gezeigt, wie stark die Kultur Geschlechterrollen prägt.
Für Schweizer*innen, die nicht wissen, wovon ich spreche: In der DDR waren die allermeisten Frauen voll berufstätig, es gab für die Kinder von Schichtarbeiter*innen Nachtkrippen – und für Montagearbeiter*innen sogar Wochenkrippen, in denen die Kinder nur am Wochenende zu den Eltern kamen, aber das ist ein anderes Kapitel. In meiner Schulklasse hatten die meisten Mädchen kurze Haare. Frauen rasierten sich weder die Achselhöhlen noch die Beine und niemand in meiner Schule dachte, dass Naturwissenschaften und Mathematik etwas für Jungen seien. Natürlich hatten auch in der DDR Männer die meisten Chefposten und die Frau war für den Haushalt zuständig – wofür sie immerhin einen «Haushaltstag» im Monat freibekam. Das Mindset, dass Jungen immer alles verstehen, Mädchen aber leider zu dumm für Mathematik sind, habe ich erstmals von meinen Tübinger Mitstudentinnen gehört.
Nele: Und so schliesst sich die gerade geöffnete Tür auch schon wieder und Mensch wird in einen neuen, einengenden Raum geschubst. Soweit ich das beurteilen kann, ist das eine zentrale Tragik der Wiedervereinigung: Statt gemeinsam kritisch über die Fehler und Errungenschaften von BRD und DDR nachzudenken und daraus eine neue Gesellschaftsordnung zu gestalten, sollten sich Menschen aus der ehemaligen DDR einfach den westdeutschen Normen anpassen. Gerade im Hinblick auf die gesellschaftliche Rolle von Frauen hat das enorme Einschränkungen mit sich gebracht.
Wenn ich jetzt meine Erfahrungen in Berlin und Ostdeutschland – ich habe viel Zeit in Leipzig, Dresden und Halle verbracht – mit meinem Leben in der Schweiz vergleiche, mache ich noch einmal andere Beobachtungen, die sehr viel mit Arbeitsfeldern zu tun haben. Ich habe vor allem in meinen 20ern viel in der Gastronomie gearbeitet und dort viel Sexismus erlebt. In Leipzig wurde mir gesagt, ich solle keine schweren Dinge tragen, weil das meine männlichen Kollegen schlecht aussehen lasse oder weil mir davon der Uterus herausfallen könne. Anzüglichkeiten und Belästigungen durch Gäste waren auch üblich.
Als ich 2017 in die Schweiz gezogen bin, hatte ich endlich die Möglichkeit, im Freien Theater zu arbeiten, und bin dort in ein Umfeld gekommen, in dem Queerness sehr selbstverständlich war. Über Sexualität und Geschlecht wurde plötzlich sehr offen gesprochen und auch Kolleg*innen, die cis und hetero/a sind, hatten sich hinterfragt und ausprobiert. Ich will die Schweiz aber auch nicht zu hoch loben. Gerade rechtlich sind hierzulande queere Menschen, Frauen und gebärende Menschen deutlich schlechter gestellt als in umliegenden Ländern.
Hannes: Haha, die Sorge, dass einem der Uterus herausfällt, kenne ich auch noch aus meiner Kindheit. Ich bin überrascht und auch bestürzt, von deinen Erfahrungen zu lesen. Wenn ich ab und zu in Leipzig bin, habe ich noch immer das Gefühl, dass die Männer weniger toxisch und die Frauen selbstbewusster sind. Aber zurück zum Theater: Mein Eindruck ist, dass ein wirklicher Diskurs um Queerness, Geschlechter(-gerechtigkeit) und diskriminierungssensibles Handeln am Theater erst nach 2017 eingesetzt hat und dass #metoo, #blacklivesmatter und später #actout sehr stark dazu beigetragen haben.
Nele: Ich teile deine Einschätzung. #metoo, #blacklivesmatter und #actout sind ja auch recht schnell aufeinander gefolgt, sodass diese Diskurse nicht rasch abgehandelt und dann wieder zur Seite geschoben werden konnten, sondern endlich als verknüpfte Felder begriffen werden mussten. In den letzten Jahren haben sich auch behinderte Künstler*innen einen Platz im Theater erkämpft, nicht wenige von ihnen queer. Deiner Liste würde ich noch das «Time Magazine Cover» mit Laverne Cox voranstellen, auf dem 2014 ein «transgender tipping point» verkündet wurde. Ich habe den Eindruck, auch in der Theaterszene hat danach eine stärkere Auseinandersetzung begonnen.
Wenn ich deine Werkliste ansehe, dann fällt mir auf, dass du im selben Jahr mit «Hosanna» ein Stück zu schwulem Leben und Genderqueerness inszeniert hast. Hast du in diesem Zeitfenster von 2014 bis 2017 einen Wandel im Umgang mit trans Themen gespürt? Wie hast du es erlebt, als trans Mann am Theater zu arbeiten? Wie wurden deine Produktionen rund um queere Themen kuratiert, begleitet und aufgenommen?
Hannes: Es ist lustig, dass du ausgerechnet «Hosanna» ansprichst. Es war das einzige explizit queere Stück, das ich je inszenierte. Widerstände und Fragen begegneten mir aber schon, wenn ich Schauspieler in Frauenrollen und Schauspielerinnen in männlichen Rollen besetzen wollte. Besonders bizarr war es, als ich in dem Kinderstück «Ein Schaf fürs Leben» das Schaf mit einem Mann und den Wolf mit einer Frau besetzte. Ich hatte einfach so besetzt, wie ich mir die Spieler*innen besser vorstellen konnte und kam gar nicht auf die Idee, dass Menschen das als cross gender empfinden könnten.
«Das Thema Trans wurde ab und zu bespielt, häufig dokumentarisch-voyeuristisch, pädagogisch.»
Nele: Wenn ich an queere Dramatik denke, dann fällt mir immer auch Tennessee Williams ein, der sein Schwulsein zwischen die Zeilen geschrieben hat. Ich kenne von ihm nur einen Einakter, in dem die für seine Stücke so typische alternde Diva eine trans Frau ist («And Tell Sad Stories of the Deaths of Queens»), und dieses Stück wurde erst 2004 – 21 Jahre nach seinem Tod – uraufgeführt.
Hannes: Neben «Hosanna» habe ich in der Theaterserie «Absolut Züri» (2007/2008) mit queeren Themen zu tun gehabt. Diese Serie hat übrigens mein Coming-out ausgelöst. Das schwule Produktionsteam hatte meine Inszenierung von «Schnitt» von Andreas Liebmann gemocht (da hatte ich eine schwule Liebschaft hineininszeniert) und mich angefragt in der Annahme, ich sei eine junge Regisseurin. Im persönlichen Gespräch waren sie dann irritiert über meine profunden Kenntnisse schwuler Lebensrealität und Datingkultur und irgendwann entschloss ich mich, selbst noch nicht ganz klar, wohin mich das führen würde, als «Hannes» und «er» im Programm zu stehen. Es war ein sensationelles Gefühl von Ankommen – in dieser sehr schwulen Produktion.
Nele: Das klingt nach einer wunderschönen Erfahrung!
Hannes: Ja, ansonsten war Theater aber weiterhin sehr cis-normativ und generell nicht sehr offen gegenüber menschlicher Vielfalt, sofern sie nicht weiss, bürgerlich, nichtbehindert und männlich war. Ich war nicht nur überall der erste und der einzige trans Mensch. (Falls es trans Kolleg*innen gab, haben sie sich mir gegenüber nicht zu erkennen gegeben.) Ausser trans Personen gab es auch keine Menschen of Color oder mit sichtbaren Behinderungen auf den Bühnen. Ausserdem desaströs wenige spannende Frauenrollen in den Spielplänen. Das Thema Trans wurde ab und zu bespielt, häufig dokumentarisch-voyeuristisch, pädagogisch.
Nele: Wenn ich an meine frühen Erfahrungen mit Theater denke, dann erinnere ich das sehr ähnlich. Wenn ich heute junge Studierende der Theaterwissenschaft mit dem «Kanon» bekannt machen soll, bin ich sehr froh zu sehen, wie kritisch sie auf den tief sitzenden Sexismus bei den Regisseuren Frank Castorf oder Michael Thalheimer und die ausbeutende Fetischisierung von Menschen of Color oder mit Behinderung bei den Regisseuren Christoph Schlingensief oder Milo Rau reagieren. An theatrale Auseinandersetzungen mit Trans-Themen kann ich mich vor meiner Zeit in der Schweiz praktisch nicht erinnern.
Hannes: Ermächtigend fand ich dann, als der Autor und Regisseur Tucké Royale mit der «neuen Selbstverständlichkeit» kam. Weg vom ausgestellten und letztlich reduzierten Blick auf eine Eigenschaft hin zu einem nicht weiter erklärungsbedürftigen Blick in unsere Leben und auf unsere Geschichten. Ich hatte von Tucké 2017 die Inszenierung «Mit Dolores habt ihr nicht gerechnet» gesehen, habe aber erst später mehr über ihn erfahren. In seinem Film «Neubau» ist die «neue Selbstverständlichkeit» in aller Entspannung umgesetzt.
Ich selbst leitete zu der Zeit die Fachstelle für trans Menschen in Zürich und bekam seit 2017 um die zehn Anfragen aus Kulturinstitutionen: Theatervereine, Studiengänge, Theater- und Filmproduktionen, die mehr über Geschlechtervielfalt lernen wollten, aber auch sicherstellen wollten, dass ihr Projekt nicht ohne Beteiligung von trans Personen geschieht.
Nele: Das finde ich interessant. Waren das vor allem Projekte von cis Personen über trans Themen? Welche Form hat deine Beratung dort gehabt?
Hannes: Wie du schon vermutet hast: Die Stücke, die ich beraten habe, waren von cis Personen geschrieben und inszeniert, meistens auch gespielt. Und es ist mir leider mehrfach nicht gelungen, den cis-sexistischen Blick auf trans Körper und Personen durch meine Beratung zu verändern. Hier in der Schweiz habe ich lange abgesehen von Stella Palino keine trans Künstler*innen auf und hinter der Bühne wahrgenommen. Auch für mich markiert Wu Tsang (und «Moved by the Motion»), die 2019 am Schauspielhaus Zürich anfing, eine Veränderung, die ich seitdem überall vorfinde. Trans/nichtbinäre Personen gestalten und erzählen ihre eigenen Geschichten, zum Beispiel auch «Living Smile Vidya». Ich gebe dir aber auch recht, dass es oftmals nur trans Geschichten sind, die trans Personen erzählen dürfen.
Nele: Was ich an Tanz und der Freien Szene im Vergleich zum Stadttheater in dieser Hinsicht sehr schätze, ist die Loslösung von «Geschichten». Die klassische Dramaturgie des Theaters sucht nach Konflikten und Figurenentwicklungen – wenn es dann um trans Personen gehen soll, ist der Reflex oft, das Coming-out und die Transition als Handlungsbogen zu wählen.
Im Tanz, in essayistischen, immersiven oder in Nummernformaten scheinen mir oft mehr Möglichkeiten gegeben, auf der Bühne trans-Sein zu performen statt trans-Werden. Dazu tragen auch Vernetzungen zwischen Drag- und Theaterszene bei. Trans/nichtbinäre Künstler*innen wie etwa Ivy Monteiro, Simone Aughterlony, Rumo Wehrli, Criptonite, V Pierzyński, Tyra Wigg oder Frank Häusermann bewegen sich mit einer grösseren Selbstverständlichkeit auf Schweizer Bühnen, ohne dass Gender zentrales Thema ihrer Arbeiten sein muss. Der Verein Bühnen-TINte wiederum vernetzt trans, intergeschlechtliche und nichtbinäre Bühnenautor*innen in der Schweiz.
Hannes: Ja, trans/nichtbinäre Schauspieler*innen sind viel sichtbarer. Während ich als Trans-Berater 2015 noch tief bewegt war von einer Person, die Schauspiel studierte und nicht wusste, ob sie sich outen oder transitionieren sollte, habe ich schon wenige Jahre später stolze trans/nichtbinäre Studierende in den diversen Studiengängen wahrgenommen. Und wenn ich heute Workshops oder Infoveranstaltungen in Theatern mache, kann ich zuverlässig damit rechnen, dass ich nicht die einzige trans Person im Raum bin.
Nele: Das erlebe ich auch als Dozent*in in der Theaterwissenschaft. Bei einem Seminar 2021 habe ich noch als einzige Person in der Pronomenrunde offensichtlich selbst gewählte Pronomen angesagt (natürlich kann es sein, dass ich dort Menschen nicht als trans wahrgenommen habe). Im letzten Frühlingssemester waren es in derselben Situation schon fünf Studierende mit Genderqueerness andeutenden Pronomen im Grundkurs. Ich hoffe auch, dass junge trans Theaterschaffende sich heute besser untereinander vernetzen und sich bezüglich Unterstützung an etabliertere trans Theatermacher*innen wenden können.
Nele: Liebe Grüsse und schöne Ferien!
Nele
Hannes: Liebe Grüsse und vielleicht bis bald
Hannes
Zu den Autor*innen
Hannes Rudolph ist Psychologe. Als Theaterregisseur inszenierte er 2006 bis 2017 an Stadt-, Landes- und Staatstheatern in Zürich, Mainz, Luzern, Regensburg und Bregenz sowie in der Freien Szene. Von 2012 bis 2022 leitete er fürs Transgender Network Switzerland die Fachstelle für trans Menschen in Zürich. Er beriet etwa 1000 trans Personen, deren Angehörige und Fachleute. Er schult und publiziert in Fachzeitschriften zum Thema Trans.
Nele Solf ist Theaterwissenschaftler*in und Dramaturg*in. They hat seit 2016 in verschiedenen Funktionen an Produktionen der Schweizer Freien Szene mitgewirkt. An der Universität Bern promoviert Nele aktuell zu Faktualität und Fiktionalität im Gegenwartstheater und erforscht in diesem Zusammenhang auch Strategien der (Selbst-)Repräsentation von marginalisierten Theaterschaffenden.
Programmhinweis
«The Making of Pinocchio» von Cade & MacAskill
27.09. / 19:30
28.09. / 19:30
Glossar
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